Als Sylvia ihre Augen öffnete, war alles um sie herum stockfinster. Sie versuchte ihren Kopf anzuheben, doch ein pulsierender Schmerz hinderte sie daran. Auf der Hinterfläche ihres Schädels hatte sich ein Rinnsal aus warmem Blut gebildet. Ihr langes, blondes Haar klebte feucht an dieser pochenden Wunde. Durchdrungen von Eiseskälte begann sie am ganzen Leib zu zittern. Sie war nackt, wie sie mit Entsetzen feststellte. Aber schlimmer noch als die Kälte war das qualvolle Gefühl der Blutleere in ihren tauben Händen, deren Gelenke in Handschellen steckten. Erst langsam registrierte sie, dass sie wie Jesus an einem Kreuz hing. Nur, dass ihr Rücken nicht an einem Stück Holz lehnte, sondern an einer Art Metallgitter, dessen rostige Stahlbügel sich eisig und hart in ihre nackte Haut fraßen. Mühsam kniff sie ihre Augen zusammen und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen, doch sie blickte in ein unendlich wirkendes schwarzes Loch. Jetzt hörte sie das dumpfe Schlagen einer großen Baumaschine, die bedrohlich nah zu werken schien. Ein Bagger? Dieses Geräusch ließ den Boden unter ihren Füßen beben und bohrte sich durch ihren Körper zu der Verletzung an ihrem Kopf. Durst. Ihr ausgetrockneter Mund verlangte nach Wasser. Mit ihrer Zunge fuhr sie sich über die dehydrierten, aufgesprungenen Lippen und stieß an ihre eingerissenen Mundwinkel. Wie lange hatte sie hier schon so gehangen? Als mehrere Tropfen Wasser von der dunklen Decke des unheimlichen Ortes auf ihr Gesicht fielen, versuchte sie, mit der ausgestreckten Zunge etwas davon zu erhaschen. Jeder dieser Tropfen, die aus flüssigem Kupfer zu bestehen schienen, schmeckte nach Hoffnung. Was zum Teufel war nur geschehen? Sylvia dachte angestrengt nach. Das Letzte, das sie sich ins Gedächtnis rufen konnte, war ein fester Schlag auf den Hinterkopf. Davon musste sie ohnmächtig geworden sein. Verzweifelt suchte sie nach weiteren Erinnerungen, die nur langsam und vereinzelt zurückkamen. Verschwommene Erinnerungen an eine Bar. Sie hatte getrunken, sich unterhalten und getanzt. Spät in der Nacht hatte sie sich, übermüdet und vom Alkohol leicht benommen, alleine auf den Heimweg gemacht. Dann der dumpfe Schlag. War sie das Opfer eines Sadisten geworden? Warum war sie hier? Warum war sie nackt? Was hatte dieser perverse Typ sonst noch mit ihr angestellt? Panik stieg in ihr auf. Würde sie auf so eine erbärmliche Weise sterben müssen, wenn sie hier nicht bald jemand fand? Sie begann jämmerlich zu weinen. Dieses Schluchzen ging nahtlos in zaghafte Hilferufe über. Erst leise, dann immer lauter. Bis ihre Stimme sich überschlug und sie nur noch fast unhörbar winselte. Das dröhnende Rattern der Baumaschine übertönte alles und es schien nicht so, als würden ihre Rufe aus diesem dunklen Verließ je an das Tageslicht dringen. Tränen überströmten ihr Gesicht. Der salzige Geschmack dieser Tränen schenkte ihr ein letztes Bild. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Atlantik an der französischen Küste geschwommen war. Mit diesem rührseligen Gedanken an Freiheit in ihrem Kopf rüttelte sie trotz aller Qualen, die es ihr verursachte und voller Verzweiflung an dem Gitter, hob sich an den Handschellen selbst in die Luft, um mit ihren Füßen rücklings gegen die Stahlbügel zu treten und schrie mit letzter Kraft um Hilfe. Ein finales Aufbäumen in Todesangst. Dann geschah etwas, das die Welt erschütterte. Das historische Stadtarchiv von Köln hielt diesem gewaltigen, unterirdischen Beben nicht stand und stürzte geräuschvoll mit einer riesigen Staubwolke aus Tonnen von Trümmern über ihr ein.
|
Als sie der Fremden fast mechanisch mit einer Hand an eine ihrer viel zu klein geratenen Brüste und mit der anderen in die Bikinihose ging, machte sie die Entdeckung. Schamhaare. Seit über einem Jahr keinen Sex – und dann das. Schamhaare. Lea Riehl verbrachte ihren Urlaub auf Ibiza. Die Fremde war am Abend zuvor in einem Restaurant auf sie zugekommen, hatte sich zu ihr an den Tisch gesetzt und begonnen, mit ihr zu flirten. Eine braun gebrannte Deutsche mit leicht grau melierten Haaren Anfang Vierzig, die auf der Insel lebte. „Haben Sie Lust, mich morgen auf meinem Segelboot zu begleiten?“ „Warum nicht?“, hatte Lea erwidert. Das Angebot enthielt keine Zweideutigkeiten. Es war offensichtlich, worum es der Frau ging. Segelboot. Eine Untertreibung. Das Schiff grenzte vielmehr an eine ausgewachsene Luxusyacht, die ebenso gut in den Häfen von Cannes oder Monaco hätte ankern können. Nach einer längeren Fahrt auf hoher See legten sie in einer wunderschönen Bucht vor einer kleinen, unbewohnten Insel an. Lea saß an Deck auf einer hellen, ledernen Garnitur und betrachtete die Frau gegen die heiße Sonne anblinzelnd, wie sie routiniert mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern auf einem Tablett auf sie zusteuerte. Aus den Boxen an Bord drang die Musik einer Compilation. Don’t look back. Télépopmusik. Wieder dachte Lea: Warum nicht? Was hatte sie zu verlieren? Dieser Tag war ihr so lange gleichgültig, bis die Frau gierig zu stöhnen begann. Sie saugte sich an Leas Lippen fest und presste ihren Körper fordernd an den der Touristin. Der ungewohnte Geschmack des Champagners auf ihrer Zunge lenkte sie von all dem Befremdlichen ab. Nein. Wenn sie ehrlich zu sich war, war es nicht der Geschmack des Getränks. Es war der Name in ihrem Kopf, der sie daran hinderte, einen weiteren ärgerlichen Gedanken an Schamhaare oder an das fremd klingende Stöhnen zu verschwenden. Hanna. Warum tauchte sie ausgerechnet jetzt wieder auf? Es dauerte nicht sehr lange und die Fremde entlud sich ihrer Erregung unerwartet plötzlich mit einem finalen Schrei. Lea zuckte erschrocken zusammen. Dann hielt sie die Frau halbherzig fest, so als würde sie eine Laterne umarmen, blickte an ihr vorbei auf das blaue Meer und stellte sich im Stillen eine letzte Frage: Warum hast du das getan? Wieder an Land bedankte sie sich höflich für den Ausflug und verschwand. Sie nahm eine lange, kalte Dusche, legte sich auf das Bett in ihrem Hotelzimmer und schaltete den Fernseher ein. Auf nahezu allen Kanälen, die sie empfangen konnte, liefen die Nachrichten. Und die bestanden an diesem Abend fast ausnahmslos aus Bildern und Berichten über den Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Lea Riehl konnte nicht glauben, was sie dort sah. Sie spürte, dass sich dieser Tag in ihr Gedächtnis brennen würde, so wie viele Menschen heute noch wissen, was sie am 11. September 2001 gemacht hatten, als die Flugzeuge der Terroristen in das World Trade Center gerast waren.
|
Doris Kowalski, Tochter einer traditionsreichen Metzgerfamilie aus Gera in Thüringen, knallte die Tür ihres Kombis hinter sich zu und blickte sich neugierig auf dem Parkplatz um, der direkt an einen Wald grenzte. An diesem Ort mitten in der Natur herrschte eine fast beängstigende Stille. Lediglich das Rauschen der noch zaghaft wachsenden Blätter an den Bäumen und das fröhliche Zwitschern einiger Vögel kündigten den heiß ersehnten Frühling an. Sie fragte sich, warum sie ausgerechnet hierher hatte kommen sollen, um die Frau zu treffen, die ihr zwei Wochen zuvor in einem Telefonat ein interessantes Angebot unterbreitet hatte. Angeblich beabsichtigte sie, ungestört mit ihr über das in Aussicht gestellte Geschäft zu reden. Es barg eine nicht zu leugnende Brisanz, das musste sie zugeben. Deshalb schien ihr die Vorsicht am Ende ebenfalls angemessen. Diese skrupellosen Wessis, dachte sie, während sie auf die Ankunft ihrer Geschäftspartnerin aus Köln wartete und sich eine Zigarette anzündete. Die sind schon allein deswegen erfolgreicher, weil sie sich nie an die Regeln halten! Doris verabscheute, dass die Regierung seit 1990 versuchte, den Menschen im Osten das Alphabet neu zu erklären. Ja, verdammt, freie Marktwirtschaft glich in keiner Weise dem sozialistischen System vor dem Mauerfall, aber wenn man sich wirklich an die Auflagen hielt, die Steuern ordnungsgemäß deklarierte oder – auf Schätzungen basierend – im Voraus zahlte, dann konnte das einem kleinen Familienbetrieb wie dem ihren das Genick brechen. Deshalb vertrat Doris entgegen der Meinung ihrer obrigkeitshörigen Eltern die Ansicht, dass bestimmte Schlupflöcher dafür da seien, um sie auch zu nutzen. Dieses Treffen würde ihr Aufschluss über ein neues Schlupfloch geben. Fünf Minuten später parkte ein grüner Nissan Micra neben ihrem Fahrzeug. Die Frau am Steuer stieg aus und lief einmal um den Wagen herum. Sie war gut 20 Zentimeter kleiner als Doris und wirkte sehr mager. Dass die etwas mit Fleisch zu tun hatte, schien Doris eher unwahrscheinlich, denn sie kannte die Vertreter ihrer Zunft nur zu gut. Noch während die zierliche Frau eine kleine Umhängetasche von ihrem Beifahrersitz nahm, begrüßte sie Doris mit einem leisen „Hallo“, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Du bist doch Doris?“, fragte sie dann. „Ja“, antwortete die Metzgerin etwas konsterniert, denn sie hatte sich ihre Verabredung vollkommen anders vorgestellt. War das überhaupt die Frau, mit der sie gesprochen hatte? Die Stimme ähnelte der am Telefon nicht annähernd. Sie klang zarter, zerbrechlicher – ja, fast ein wenig ängstlich. Gut, Doris konnte sich irren, aber hier sollte es für sie schließlich um einen Deal mit einem bisher noch nicht da gewesenen Ausmaß und einer beachtlichen Marge gehen. War diese kleine Frau imstande, so etwas durchzuziehen? Sie liefen in den Wald hinein und tauschten einige Belanglosigkeiten über die lange Autofahrt von Gera nach Nordrhein-Westfalen und über das Wetter aus. „Endlich wieder Grillsaison“, schloss Doris den kurzen Exkurs über die langsam steigenden Temperaturen und wollte somit zu dem Thema überleiten, weswegen sie überhaupt angereist war. Doch dazu kam es nicht mehr. Keine 45 Minuten nach ihrer Ankunft in diesem Wald nahe Köln war Doris Kowalski tot.
|